Felix Klein to H. Poincaré

[1902-01-14]

Sehr verehrter Freund und College!

Heute komme ich mit einer Bitte, die ich zugleich im Namen zahlreicher Collegen an Sie richte. Die (internationale) astronomische Gesellschaft hat, wie Sie jedenfalls wissen, in diesem Jahre ihre Hauptversammlung in Göttingen, und zwar sind dafür die Tage vom 5–8 August in Ansicht genommen. Wirde es Ihnen irgend möglich sein, dass Sie an dieser Versammlung teilnehmen? Wir Göttinger wollen in der That versuchen, einen möglichst vielseitigen Besuch von Seiten der theoretischen Astronomen herbeizuführen. Dies wird, so hoffen wir, nicht nur den Verhandlungen eine besondere Bedeutung geben, sondern auf den Betrieb der Astronomie, der bei uns etwas einseitig geworden ist, und ihre Beziehung zu Mathematik belebend zurückwirken (ich hoffe namentlich auch, dass der astronomische Teil unseren mathematischen Encyclopädie, der noch im Stadium der ersten Vorbereitung ist, dadurch eine wesentliche Förderung erhält). Sie finden hier in Göttingen jetzt den Boden dafür besonders vorbereitet, in dem neben Brendel, den Sie kennen, als neuberufener Direktor der Sternwarte Schwarzschild steht, wir also mit jugendlichen Kräften einsetzen. Nach anderer Seite Hoffen wir den astronomischen Nachlaß von Gauß geordnet vorlegen zu können. Diese allgemeineren Andeutungen mögen hier genügen; welch besonderen Werth wir im Zusammenhang mit denselben Ihrer Anwesenheit beilegen würden, brauche ich nicht auszuführen. Ich möchte Sie bitten, möglichst auch Ihren Einfluß dahin verwenden zu wollen, dass von den zahlreichen jüngeren französischen theoretischen Astronomen der eine oder andere herkommt! An Callandreau werde ich noch direct schreiben.

Von mir selbst ist hier nicht viel zu beurteilen, dass es mir und den Meinigen gut geht. Ich bin in den letzten Jahren wesentlich mit Organisationsfragen beschäftigt gewesen und hoffe, dass Sie, wenn Sie herkommen, gewisse Fortschritte in unseren Instituten wie allgemeinen Einrichtungen wahrnehmen werden. Daneben hat Hilbert in ausgezeichneter Weise theoretisch weitergearbeitet. Die Festschriften zum 150 jährigen Jubilaeum unserer Akademie werden Sie ja neulich richtig bekommen haben, in denen Hilbert das Dirichlet’sche Princip auf eine neue Basis stellt, während ich Gauss’ ursprüngliches wissenschaftliches Tagebuch publiciere.11 1 Hilbert 1900.

Mit der Bitte, mich den werthen Ihrigen freundschaftlichst empfehlen zu wollen, Ihr sehr ergebener

F. Klein

ALS 4p. Private collection 75017, Paris.

Time-stamp: "31.10.2016 21:27"

Literatur

  • D. Hilbert (1900) Über das Dirichlet’sche Prinzip. Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung 8, pp. 184–188. External Links: Link Cited by: footnote 1.