H. Poincaré: Über die Reduktion der Abelschen Integrale und die Theorie der Fuchsschen Funktionen
Meine Herren! Ich habe die Absicht, Ihnen heute über die Reduktion der Abelschen Integrale im Zusammenhang mit der Theorie der automorphen und insbesondere der Fuchsschen Funktionen vorzutragen.
Ein System von Abelschen Funktionen von Variabeln und Perioden heißt reduzibel, wenn es sich auf ein System von Variabeln und Perioden zurückführen läßt. Hierbei ist es von vornherein von Wichtigkeit, zwei Fälle zu unterscheiden:
Im ersten Falle soll es möglich sein, das System Abelscher Funktionen von Variabeln durch eine algebraische Kurve vom Geschlechte zu erzeugen. Ebenso soll das System von Variabeln aus der Theorie eines algebraischen Gebildes vom Geschlechte entspringen.
Dieser unser erste Fall ist aber bekanntlich nicht der allgemeine; denn die Kurve hängt nur von Konstanten ab, während die allgemeinen Abelschen Funktionen von Variabeln Parameter enthalten. Dadurch ist der zweite der beiden Fälle gegeben, die wir unterscheiden. In diesem Falle nämlich soll mindestens eines der beiden Systeme , nicht aus der Theorie der algebraischen Gebilde entspringen.
In meinem heutigen Vortrag will ich mich durchaus auf den erstgenannten Fall beschränken. Aber auch dann muß ich noch zwei Fälle unterscheiden. Wir knüpfen nämlich unsere Betrachtungen an die beiden algebraischen Kurven und an. Im Falle der Reduzibilität besteht zwischen beiden eine algebraische Korrespondenz. Die Beschaffenheit derselben liegt der in Aussicht gestellten Fallunterscheidung zugrunde.
Der erste Fall ist der folgende. Vermöge der Korrespondenz ist jedem Punkte von ein und nur ein Punkt von zugeordnet, während umgekehrt jedem Punkte von Punkte von entsprechen. Ich nenne dann die charakteristische Zahl der Korrespondenz und sage, ist eine vielfache Kurve von .
Der eben genannte erste Fall ist aber nicht der allgemeine. Das ist vielmehr der nun folgende zweite. Hier nämlich besteht die Korrespondenz nicht zwischen einzelnen Punkten und , sondern zwischen Systemen von Punkten von mit den Koordinaten und von mit den Koordinaten . Jedem System auf soll dabei ein und nur ein System auf entsprechen, während umgekehrt einem System auf im allgemeinen mehrere Systeme auf zugeordnet sind. Ich sage dann, ist eine pseudovielfache Kurve von .
Im erstgenannten Falle sind und rationale Funktionen von und , während im zweiten nur geschlossen werden kann, daß jede rationale und symmetrische Funktion der eine rationale Funktion der ist. Es ist leicht zu sehen, daß jede Kurve , die eine vielfache von ist, auch eine pseudovielfache der Kurve ist. Umgekehrt aber habe ich mehrere Beispiele bilden können dafür, daß nicht jede pseudovielfache Kurve von auch eine vielfache von ist. Ich will jedoch hier nicht näher darauf eingehen, zumal da sich meine folgenden Darlegungen durchaus an den ersten Fall anschließen werden.
Im Falle der Reduzibilität unserer Integrale ist es möglich, ihre Periodentabelle auf eine besondere Normalform zu bringen. Die folgenden beiden Beispiele mögen eine Anschauung von der Beschaffenheit derselben geben.
1) ; . Die Periodentabelle kann auf die folgende Form gebracht werden:
2) ; . Die normierten Perioden sind hier:
Die Zahlen , bedeuten in beiden Tabellen ganze rationale Zahlen.
Ich definiere nun noch eine zweite charakteristische Zahl . Sie gibt die Ordnung der Thetafunktion von Variabeln an, in die eine Thetafunktion erster Ordnung von Variabeln im Falle der Reduzibilität transformiert werden kann. Im ersten Beispiel ist , im zweiten . Die beiden charakteristischen Zahlen und sind nun immer einander gleich. Ich habe zwei Beweise für diesen Satz gefunden, die ich jetzt in ihren Grundzügen auseinandersetzen will.
Erster Beweis. Seien und zwei Abelsche Integrale erster, zweiter oder dritter Gattung der Kurve . Ich denke mir die zugehörige Riemannsche Fläche irgendwie längs von einem Punkte ausgehenden nichtzerstückenden Rückkehrschnitten kanonisch aufgeschnitten. Dann mögen und die folgenden Perioden besitzen:
Ich muß nun eine charakteristische fundamentale Bilinearform definieren. Ich setze nämlich:
wo das Integral längs der ganzen Kontur der Zerschneidung erstreckt werden soll. Wenn , Normalperioden sind, so nimmt die folgende Form an:
Nehme ich an, es sei eines der reduziblen Integrale, dann drücken sich seine Perioden ganzzahlig und linear durch nur Perioden aus. Ich habe also dann:
wo die ganze rationale Zahlen bedeuten. Wenn nun und Integrale erster Gattung sind, dann ist bekanntlich
Wenn man in diese Gleichung die Ausdrücke der durch die einsetzt, so bekommt man eine bilineare Gleichung zwischen den und , die in der folgenden Form geschrieben werden kann:
Seien nun linear unabhängige Integrale erster Gattung von . Dann können wir setzen:
Die vorläufig noch unbestimmten Koeffizienten sollen nun so bestimmt werden, daß sie den linearen Gleichungen:
genügen. Wenn man dann noch beachtet, daß diese Gleichungen nicht linear unabhängig sind, sondern daß zwischen ihnen Relationen
bestehen, so ist leicht zu erkennen, daß auch reduzierbar ist, und daß, so wie einer Schar von reduziblen Integralen angehört, auch ein Element einer fach unendlichen linearen Schar von reduziblen Integralen ist. Doch dies nur nebenbei.
Ich bemerke nun, daß eine lineare Funktion der ist, sodaß ich schreiben kann:
wo die ganze rationale Zahlen sind. Aus den und den kann ich nun zwei Tabellen von je Kolonnen und Zeilen bilden. Aus beiden kann ich gewisse -reihige Determinanten bilden. Ich bezeichne die der mit und die aus denselben Zeilen der gebildete mit . Dann setze ich
ist nun in dem folgenden Sinne eine invariante Zahl: Sie bleibt ungeändert, wenn man irgendeines der Periodensysteme oder durch ein äquivalentes ersetzt. Dabei heißen zwei Periodensysteme äquivalent, wenn sie sich ganzzahlig und linear durcheinander ausdrücken lassen. Man kann nun einerseits beweisen, daß
andererseits aber, daß
Daraus kann man folgern, daß
Das ist der erste Beweis. Der nun folgende
Zweite Beweis ist wesentlich kürzer. Er beruht auf dem Vergleich der zu und gehörigen Bilinearformen und . Man hat nämlich einerseits
andererseits
Daraus schließt man
Ich komme nun zum Zusammenhang der Reduktionstheorie mit der Theorie der Fuchsschen Funktionen.
Bekanntlich definiert jede algebraische Kurve ein System von Fuchsschen Funktionen. Nun kann man die Tatsache, daß ein Vielfaches von ist, auch folgendermaßen ausdrücken. Es ist immer auf mannigfache Weise möglich, der Kurve eine Grenzkreisgruppe und eine ebensolche Gruppe zuzuordnen, sodaß eine Untergruppe von ist. Ist im besonderen ein -faches von , dann ist eine Untergruppe vom Index von . Man erhält daher einen Fundamentalbereich von dadurch, daß man geeignet gewählte Fundamentalbereiche von , die durch die Operationen von auseinander hervorgehen, aneinander lagert. Das Polygon von erscheint dann in Polygone eingeteilt, die einem Polygon von im Sinne der nichteuklidischen Geometrie kongruent sind.
Ich bezeichne die Seiten des Polygons mit und die homologen Seiten von mit . Die Seiten liegen entweder im Innern oder auf dem Rande von . Ich nehme nun an, die Seite gehe aus vermöge einer Operation von hervor. Wenn nun auf dem Rande von liegt, dann gibt es eine weitere Seite auf diesem Rande, die mit vermöge einer Operation von konjugiert ist. Wenn jedoch im Innern von liegt, so existiert eine derartige von verschiedene Seite nicht, sondern es fallen und zusammen und bilden die gemeinsame Seite von und . Aber wie dem auch sei, jedenfalls entspricht jeder Seite von eine Permutation der Ziffern , , , .
Eine der eben durchgeführten ganz ähnliche Betrachtung können wir auch für die Ecken von anstellen. So wie wir nämlich die Seiten in Paare zusammenfaßten, so können wir die Ecken in Zyklen einteilen, so daß die Ecken eines Zyklus auseinander durch die Operationen von hervorgehen. Jedem solchen Zyklus kann wieder eine bestimmte Vertauschung der Ziffern , , , zugeordnet werden, die sich aus den den Seiten zugeordneten gewinnen läßt. Ich nehme nun an, es habe Seiten und Eckenzyklen. und sollen die gleiche Bedeutung für haben. Die einem Eckenzyklus von entsprechende Permutation läßt sich in zyklische Permutationen zerlegen. Bei allen Eckenzyklen mögen dabei im ganzen zyklische Permutationen von gerade Ziffern vorkommen. Dann bestehen die folgenden Relationen:
Die bisher gegebenen allgemeinen Betrachtungen setzen uns nun instand, eine Reihe schöner und wichtiger Sätze über die nichteuklidische Geometrie der Kreisbogenpolygone, sowie über die Geometrie der algebraischen Kurven abzuleiten. Ich will im folgenden einige Beispiele solcher Sätze anführen, ohne mich des näheren auf Beweise einzulassen, deren Grundzüge übrigens im vorstehenden enthalten sind.
1) , , , .
Mit und sind dabei die Ordnungen der Kurven und bezeichnet. hat keinen Doppelpunkt, hat einen Doppelpunkt. Von den 28 Doppeltangenten von gehen sechs durch einen Punkt außerhalb der Kurve.
2) , , , , .
hat zwei Doppelpunkte, nur einen. Setzt man die Differentiale der reduziblen Integrale erster Gattung gleich Null, so erhält man ein Kegelschnittbüschel, dessen vier Basispunkte von den beiden Doppelpunkten von und zwei weiteren Punkten derselben Kurve gebildet werden. Sechs dieser Kegelschnitte berühren doppelt. Derjenige derselben, der in einem Basispunkte berührt, oskuliert daselbst.
3) , , .
Die Kurve ist ein Vielfaches von zwei verschiedenen Kurven und . Es existiert eine Fuchssche Gruppe , zu der man sowohl ein erstes Polygon konstruieren kann, das aus zwei Polygonen einer zu gehörigen Gruppe besteht, als auch ein zweites Polygon , das aus zwei Polygonen einer zu gehörigen Gruppe besteht. ist also sowohl in als in als Untergruppe vom Index enthalten. Die nebenstehende schematische Figur möge zur Veranschaulichung der Verhältnisse dienen. Die beiden eben erwähnten Fundamentalbereiche und von sind durch die Polygone mit den Ecken bzw. dargestellt. Jedes derselben zerfällt in zwei Sechsecke, die bzw. Fundamentalbereiche von oder sind. Um die Äquivalenz von und besser hervortreten zu lassen, sind die Symmetriezentren der erwähnten Sechsecke mit den Seitenmitten verbunden, sodaß alle Polygone sich in leicht ersichtlicher Weise aus den so entstehenden Vierecken aufbauen.
Ich gehe nun zu den Sätzen aus der Geometrie der algebraischen Kurven über, die uns dieses Beispiel lehrt. Wenn ich auf einen Punkt markiere, so entsprechen diesem zwei Punkte und auf . Jedem von diesen entspricht ein Punkt von : , . Es entsprechen also im allgemeinen jedem Punkte von zwei Punkte von . Ebenso kann man schließen, daß im allgemeinen jedem Punkte von zwei Punkte von entsprechen. Die Korrespondenz hat aber zwei Verzweigungspunkte , . Jedem von ihnen entspricht also nur ein Punkt von und also auch nur ein Punkt von : , . Ebenso hat die Korrespondenz zwei Verzweigungspunkte , . Jedem von ihnen ist nur ein Punkt von zugeordnet: , . Wir können dann den ersten Satz, den wir anführen wollen, so aussprechen:
und einerseits und und andererseits fallen zusammen.
Ich gehe zum zweiten Satz über, der sich ergibt, wenn man und als Kurven dritter Ordnung voraussetzt.
Ich kann in die Tangente an ziehen. Ich verbinde ferner und durch eine Sekante. Diese beiden Geraden schneiden sich auf . Ebenso kann ich in die Tangente an ziehen und mit der Sekante zum Schnitt bringen. Der Schnittpunkt liegt auf .
Diese wenigen Beispiele lassen zur Genüge erkennen, wie zahlreich die besonderen Fälle sind.