Über die Fredholmschen Gleichungen

Henri Poincaré
Sechs Vorträge
über ausgewählte Gegenstände
aus der reinen Mathematik und mathematischen Physik
Leipzig: Teubner, 1910, Kap. 1

Die Integralgleichung

φ(x)=λabf(x,y)φ(y)𝑑y+ψ(x) (1)

wird bekanntlich aufgelöst durch die Integralgleichung derselben Art

φ(x)=ψ(x)+λabψ(y)G(x,y)𝑑y, (1a)

wobei

G(x,y)=N(x,y;λ|f)D(λ|f)

gesetzt ist. N und D sind, wie aus der Fredholmschen Theorie bekannt ist, zwei ganze transzendente Funktionen in bezug auf λ. Um ihre Entwicklung explizite hinschreiben zu können, bezeichne man, wie Fredholm, mit f(x1,x2,xny1,y2,yn) diejenige n-reihige Determinante, deren allgemeines Element f(xi,yk) ist. Setzt man dann

an=abababf(x1,x2,xnx1,x2,xn)𝑑x1𝑑xn,

so hat man

D(λ)=0(-λ)nn!an.

Diese Gleichung formen wir um, indem wir die durch „Iteration” aus f(x,y) entstehenden Kerne heranziehen. Setzen wir zunächst

f(xα,xβ)f(xβ,xγ)f(xλ,xμ)f(xμ,xα)=f(xα,xβ,xλ,xμ),

so ist klar, daß f(x1,x2,xnx1,x2,xn) die Form hat

±f(xα,xμ),

wie sofort aus der Entwicklung der Determinante hervorgeht. Sei nun

bk=ababf(xα,xμ)𝑑xα𝑑xμ,

wobei k die Anzahl der Integrationsvariabeln xα,xμ bedeutet, so können wir offenbar auch setzen

bk=abfk(x,x)𝑑x,

wenn unter

fk(x,y)=ababf(x,xα)f(xα,xβ)f(xλ,y)𝑑xα𝑑xλ

der “k-fach iterierte Kern” verstanden wird.

Wir haben den obigen Relationen zufolge jetzt

an=±bk.

Beachten wir nun, daß gewisse unter den in einem Produkt bk enthaltenen bk einander gleich werden können, daß ferner gewisse der Produkte bk selbst einander gleich sein werden, nämlich solche, die durch eine Permutation der xi auseinander entstehen, so ergibt eine kombinatorische Betrachtung für an einen Ausdruck von der Form

an=aα+bβ+cγ+=nn!aαbβcγa!b!c![(-1)α+1bα]a[(-1)β+1bβ]b[(-1)γ+1bγ]c

und also

D(λ)=a,b,c,1a!b!c!(-λαbαα)a(-λβbββ)b(-λγbγγ)c

d. h.

D(λ)=1e-λαbαα, (2)

also

logD(λ) =-λαbαα, (2a)
D(λ)D(λ) =-λα-1bα. (2b)

Den Zähler N(x,y;λ) der Funktion G(x,y;λ) kann man auf analoge Weise durch die Gleichung

N(x,y;λ)=D(λ)λhfh+1(x,y) (3)

definieren. Diese Gleichungen, welche sich übrigens schon bei Fredholm finden, sind nützlich als Ausgangspunkt für viele Betrachtungen, wie sich nun an einigen Beispielen zeigen wird.

Die Fredholmsche Methode ist unmittelbar gültig nur für solche Kerne f(x,y), die endlich bleiben. Wird der Kern an gewissen Stellen unendlich, so kann dennoch der Fall eintreten, daß ein iterierter Kern, etwa fn(x,y), endlich bleibt. Dann läßt sich die Integralgleichung mit dem iterierten Kerne nach Fredholm behandeln, und Fredholm zeigt, daß die ursprüngliche Integralgleichung (1) sich auf diese zurückführen läßt. Die Auflösung wird wieder durch eine Formel der Gestalt (1a) gegeben, nur ist jetzt

G=N1(x,y;λ)Dn(λ)

zu setzen, wobei

Dn(λ)=D(λn|fn)

und

N1(x,y;λ)=Dn(λ)λhfh+1(x,y)

ist. Dabei sind N1 und Dn wieder ganze transzendente Funktionen von λ; jedoch zeigt es sich, daß sie einen gemeinsamen Teiler besitzen; wir wollen zusehen, wie sich dies aus unseren Formeln (2) bis (3) ergibt und wie wir eine Bruchdarstellung der meromorphen Funktion G erhalten, bei der Nenner und Zähler ganze Funktionen ohne gemeinsamen Teiler sind.

Aus unserer Annahme über die iterierten Kerne folgt, daß die Koeffizienten bn, bn+1, endlich sind. Bilden wir nun in Anlehnung an Gleichung (2a) die Reihe

K(λ)=-λnbnn-λn+1bn+1n+1-,

so wird dieselbe konvergieren. Jetzt setzen wir

G(x,y;λ)=eKλhfh+1eK

und behaupten, in dieser Formel die gewünschte Darstellung zu haben.

Um dies zu beweisen, haben wir zu zeigen, daß eK und eKλh+1fh+1 ganze Funktionen sind.

Zu diesem Zwecke bilden wir dKdλ. Man berechnet leicht

-dK(λ)dλ=λn-1abN1(x,x)Dn(λ)𝑑x+k=1k=n-1λn+k-1abN1(x,y)Dnfk(x,y)𝑑x𝑑y.

Hieraus schließt man zunächst, daß dKdλ eine meromorphe Funktion von λ ist; denn sie besitzt höchstens Pole in den Nullstellen von Dn(λ), d. h. in den Stellen λ=αλi wo α eine n-te Einheitswurzel und λi ein Eigenwert des Kernes fn ist. Man kann nun zeigen, daß in diesen möglichen Unendlichkeitsstellen das Cauchysche Residuum von dKdλ gleich 1 oder 0 ist, je nachdem α=1 oder α1 genommen wird. Die hierzu gehörige Rechnung wollen wir jetzt nicht durchführen; man benutzt dabei den Umstand, daß das für λ=λk genommene Residuum von N1(x,y)Dn gleich φk(x)ψk(y) ist, wo φk, ψk, die zu λ=λk gehörigen Eigenfunktionen, den Gleichungen

abφk(x)fp(y,x)𝑑x =λk-pφk(y)
abψk(z)fp(z,y)𝑑z =λk-pψk(y)

genügen. Hieraus folgt, daß eK(λ) eine ganze transzendente Funktion ist, die nur an den Stellen λ=λi verschwindet.

Betrachtet man ebenso den Zähler von G, so sieht man zunächst, daß er eine meromorphe Funktion von λ wird, die höchstens an den Stellen λ=αλi unendlich werden kann. Die Betrachtung der Residuen zeigt jedoch, daß dies nicht geschieht, und somit, daß der Zähler eKλhfk+1 ebenfalls eine ganze transzendente Funktion ist. Damit ist die Reduktion des Fredholmschen Bruches geleistet.

Die Reihenentwicklung für Zähler und Nenner des Fredholmschen Bruches in dieser reduzierten Gestalt erhalten wir, indem wir auf die Bildungsweise von K(λ) zurückgehen; setzen wir den Nenner

eK(λ)=(-λ)nann!,

so haben wir

an=aα+bβ+cγ+=n±bαabβbbγc,

wobei zu setzen ist

bα=0 für α<n und bα=abfα(x,x)𝑑x für αn.

In analoger Weise wird der Zähler gebildet. Man muß also die Determinanten in der gewöhnlichen Weise entwickeln, aber diejenigen Glieder dieser Entwicklung wegwerfen, welche einen Faktor von der Form f(x1,x2,xk) mit weniger als n Veränderlichen enthalten.

Unsere Formeln (2), (2a), (3) sind auch in dem Falle von Nutzen, daß außer dem Kern f(x,y) auch alle iterierten Kerne unendlich werden und die Fredholmsche Methode also nun sicher versagt.
Seien etwa die Zahlen b1,b2,bn-1 unendlich, bn,bn+1, endlich. Man kann dann jedenfalls die Reihe K(λ) bilden, fragen, ob sie konvergiert, und untersuchen, ob eK(λ) wieder eine ganze Funktion darstellt. Unter der Voraussetzung, daß f(x,y) ein symmetrischer Kern ist, d. h.

f(x,y)=f(x,y),

ist mir dieser Nachweis gelungen. Ich benutze dabei die Relationen

bn=λi-n,

die für n>2 gelten müssen, da das Geschlecht der Funktion D(λ) einem Hadamardschen Satze zufolge kleiner als 2 ist.

Den Beweis mitzuteilen fehlt jetzt die Zeit.

Für den Zähler des Fredholmschen Bruches habe ich die Betrachtung nicht durchgeführt.

Noch einige Worte über die Integralgleichung 1. Art! Auf gewisse derartige Integralgleichungen kann man, wenn man sie zuvor auf Integralgleichungen der 2. Art zurückführt, die Fredholmsche Methode direkt anwenden. Es liege z. B. die Gleichung

-+φ(y)[eixy+λf(x,y)]dy=ψ(x)  (-<x<+) (1)

vor, in der ψ(x) die gegebene, φ(x) aber die gesuchte Funktion ist, während der Bestandteil f(x,y) des Kerns eine gegebene Funktion ist, die gewissen, weiter unten angegebenen beschränkenden Voraussetzungen unterworfen ist. Für die gesuchte Funktion φ(y) machen wir den Ansatz

φ(y)=-+Φ(z)e-izy𝑑z,

aus dem nach dem Fourierschen Integraltheorem, falls Φ(x) die Bedingungen für dessen Gültigkeit erfüllt, umgekehrt

2πΦ(x)=-+φ(y)eixy𝑑y

folgt. Danach verwandelt sich (1) in

2πΦ(x)+λ-+-+Φ(z)f(x,y)e-izy𝑑z𝑑y=ψ(x)

oder

2πΦ(x)+λ-+Φ(z)K(x,z)𝑑z=ψ(x),

wenn

K(x,z)=-+f(x,y)e-izy𝑑y (2)

gesetzt wird, und damit sind wir bereits bei einer Integralgleichung 2. Art angelangt. Der Kern (2) gestattet die Anwendung der Fredholmschen Methode z. B. dann, wenn f(x,y) und f(x,y)y gleichmäßig in x für y=± gegen 0 konvergieren und die Ungleichung

2fy2<M1+y2

statthat, in der M eine von x und y unabhängige Konstante bedeutet. Von ψ(x) genügt es etwa, anzunehmen, daß es nur endlichviele Maxima und Minima besitzt und im Intervall -+ absolut integrierbar ist.

Wir können dieselbe Methode auf eine Reihe

ψ(x)=(m)Am[eimx+λθm(x)]

anwenden; das Problem ist hier also, wenn ψ(x) und die Funktionen θm(x) gegeben sind, die Koeffizienten Am so zu berechnen, daß die hingeschriebene Entwicklung gültig ist. Handelte es sich soeben um eine Erweiterung des Fourierschen Integraltheorems, so haben wir es jetzt mit einer Verallgemeinerung der Fourierschen Reihe zu tun.

Setzen wir φ(z) in der Form

φ(z)=(m)Ameimz;2πAm=02πφ(z)e-imz𝑑z

an, so bekommen wir

ψ(x)=φ(x)+λ2π02πφ(z)(m)e-imzθm(x)dz.

Von der Reihe, welche hier als Kern fungiert, müssen wir voraussetzen, daß sie absolut und gleichmäßig konvergiert, d. h. wir müssen annehmen, daß

(m)|θm(x)| (3)

gleichmäßig konvergiert.

Setzen wir beispielsweise

λ=1,θm(x)=eiμmx-eimx,

so erhalten wir eine Entwicklung der Form

ψ(x)=(m)Ameiμmx.

Die Bedingung (3) ist erfüllt, wenn wir die absolute Konvergenz von

(m)(μm-m)

voraussetzen.

Endlich betrachten wir noch die Gleichung

02πφ(y)[eixy+λf(x,y)]dy=ψ(x),(-<x<+) (4)

welche sich von (1) dadurch unterscheidet, daß das Integral nicht in unendlichen, sondern in endlichen Grenzen zu nehmen ist. In diesem Fall darf ψ(x) nicht willkürlich gewählt werden: es muß, falls f(x,y) holomorph ist, sicher eine ganze transzendente Funktion sein, wenn die Gleichung (4) eine Auflösung besitzen soll. Dagegen dürfen die Werte ψ(m) dieser Funktion ψ für alle ganzen Zahlen m im wesentlichen willkürlich angenommen werden. Setze ich nämlich

φ(z)=(m)Ame-imz,wo2πAm=02πφ(y)eimy𝑑y ist,

so verwandelt sich (4), für x=m genommen, in

2πAm+λ(p)Ap02πe-ipyf(m,y)𝑑y=ψ(m).

Wir gelangen so zu einem System unendlich vieler linearer Gleichungen mit unendlich vielen Unbekannten, wie sie von Hill, H. v. Koch, Hilbert u. a. untersucht worden sind. Die Lösung dieses Systems ist, falls wir für die Reihe

(p,m)02πe-ipyf(m,y)𝑑y (5)

die Voraussetzung absoluter und gleichmäßiger Konvergenz machen, der Fredholmschen Lösung der Integralgleichungen durchaus analog und stellt sich wie diese als meromorphe Funktion des Parameters λ dar. Die gleichmäßige und absolute Konvergenz von (5) ist aber, wie sich durch partielle Integration ergibt, sichergestellt, falls die Summe

(m)f′′(m,z)

oder das Integral

-+f′′(x,z)𝑑x

absolut und gleichmäßig konvergiert.

Man sieht die Ähnlichkeit und den Unterschied der beiden Fälle (1) und (4) deutlich: je nachdem die Integrationsgrenzen unendlich oder endlich sind — oder auch, je nachdem der Kern in den Integrationsgrenzen keine oder eine genügend hohe Singularität aufweist —, darf man die „gegebene” Funktion im wesentlichen willkürlich wählen oder ihr nur eine zwar unendliche, jedoch diskrete Reihe von Funktionswerten vorschreiben. Es wäre wohl nicht ohne Interesse, den hier zur Geltung kommenden Unterschied mit Hilfe der Iteration der Kerne näher zu betrachten.